„Sandra, irgendwann fährst Du auch mal nach Biel. Einmal im Leben musst Du nach Biel, gibt sogar ein Buch dazu!“ – So oder so ähnlich sprach meine Freundin Ines vor einigen Jahren zu mir, als sie aus Biel wieder kam. Sie hatte die Strecke bereits mehrere Male absolviert und predigte die 100km von Biel als absoluten Kultlauf. „Du spinnst,“ entgegnete ich ihr damals, „ich laufe doch keine 100km….“und zeigte ihr den Vogel 😊

2019 war ich dann einmal privat in Biel und ertappte mich dabei, wie ich mir das Start- und Ziel Gelände in der Innenstadt ansah und mir vorstellte wie hier die ganzen Läufer aus Strecke gehen.

Als 2020 dann der Corona- Wahnsinn anfing verlegte ich meine Laufeinheiten in den Morgen. Es gefiel mir in die und in der Morgensonne zu laufen und irgendwie wurden die Läufe immer länger und länger. In der Woche kamen locker 90-110km zusammen und auf einmal ertappte ich mich dann wie ich mich auf der Website des 100km Laufs rumtrieb. Auf einmal überkam es mich, wenn nicht jetzt, wann dann?! Und so hatte ich ein paar Minuten später die Anmeldebestätigung für 2021.

Es war also besiegelt: ich fahre nach Biel.

Am 2.9. sitze ich dann im Auto und kann es irgendwie nicht fassen, es ist so unwirklich- mehr als 1,5 Jahre hatte ich nun Kilometer geschrubbt, Marathons gelaufen wie andere 10km, einige 50er dazu und nun war ich wirklich auf dem Weg nach BIEL, unfassbar.

Corona bedingt war die Strecke dieses Jahr etwas abgewandelt und startete nicht in der Innenstadt, sondern in der etwas außerhalb gelegenen Tissot Arena, wo ich auch meine Startnummer abhole. Es überkommt mich ein leichter Schauer: jetzt ist es real: ich bin 2021 die Nummer 151 bei den 100km von Biel. Zudem gibt es dieses Jahr einen 20km Rundkurs, der 5x gelaufen werden muss.

Als ich dann am 3.9. um 22 Uhr am Start stehe freue ich mich wie ein Schnitzel. Der Himmel ist sternenklar, die Temperatur top- Endlich geht es los. Das Streckenprofil erschien auf der Grafik im Netz flach, nur kleine Steigungen -ich bin gespannt.

Der Startschuss- ich denke an meine Freundin Ines, die mir auf den Weg gab: Lauf immer so, dass Du das Gefühl hast, dass Du theoretisch noch schneller laufen könntest. Das setze ich um und bin erstaunt, dass sich der Pace bei ca. 5:35/5:40 einpendelt. Ich versuche jemanden zu finden, der ungefähr genauso schnell läuft. Ich weiss, dass es zu zweit einfacher ist.

Ich habe Glück, ab km20 laufe ich mit Janine aus St. Gallen. Wir reden nicht viel, denken aber oft das Gleiche: bei 33 „feiern“ wir 1/3, bei 42 den Marathon und bei 50, dass wir die Hälfte „schon“ haben. In der Tat kommt es mir irgendwie kurzweilig vor, weil ich nicht alleine bin.

Im Training war das längste was ich gelaufen bin, 55km. Was würde danach passieren? – Nichts- es ging einfach so weiter, allerdings realisierte ich bei km 55 das erste Mal, dass mich so etwas wie Müdigkeit ergreift. Aber egal, einfach weiter laufen und nicht drüber nachdenken.

Als ich bei km 60 an die Verpflegung komme ist Janine schneller als ich wieder weg. Ich kriege sie leider nicht mehr und muss sie ziehen lassen. „schade“ denke ich, aber habe so gleich den Gedanken, „geil, jetzt ist es nur noch weniger als ein Marathon und die vorletzte Runde und bald wird es auch hell sein“. Ich freue mich und stelle bald fest, dass ich nun quasi alleine auf der Strecke bin. Aber irgendwie ist es ein gutes Gefühl und ich tapper im Schein meiner Stirnlampe vor mich hin. Tempo muss ich etwas raus nehmen, aber bin immer noch im hohen 6:xx min/km Bereich, es läuft.

Als ich dann die 80km Marke passiere und somit auf die letzte Runde ging, da fing es an zu dämmern. Die allerletzte Runde!! „Wie mega, jetzt muss ich das Ding nur noch Heim laufen“, denke ich und es huscht mir ein Lächeln übers Gesicht. Was auf der letzten Runde folgte, war wohl mit Abstand das emotionalste was ich in meinem bisherigen Sportlerleben erlebt habe.

Auch wenn die Beine langsam müde wurden und ich gefühlt jeden Stein an den Füßen spürte- ich hatte einfach nur Spaß. Der rote Himmel, das Dämmern am Horizont, leichter Frühnebel in den Feldern – fast, dass es etwas Romantisches gehabt hätte.

Bei km 90 schaute ich auf meine Uhr- ich war alles in allem viel schneller als ich dachte. Ich begann im Kopf hochzurechnen. Mein Ziel war es, unter 12 Stunden zu bleiben, das würde ich ja auf jeden Fall schaffen und ich freute mich, dass ich es sogar in 10h xx min schaffen würde, wenn ich so weiter laufen würde. Wie unfassbar…

Als ich dann bei km95 realisierte, dass ich es unter 10h packen kann, da habe ich echt nochmal alles mobilisiert was ging. Keine Ahnung wo da auf einmal die Power herkam, aber sie war da, der Pace ging wieder unter 6:00 min/km. Bei km98 schien mir dann erstmalig an jenem Morgen die Sonne frontal ins Gesicht und mir schossen das erste Mal Tränen in die Augen, noch 2km…

Bei km99 dann ein kleines emotionales Feuerwerk: “ich bin gerade dabei BIEL!!!!unter!!!!!10 Stunden zu finishen” und ich war wie entfesselt. Als ich dann auf die Zielgerade einbog, die Stadionsprecherin meinen Namen sagte und hinzufügte „welch starke Leistung, unsere 4. Frau ist im Ziel, ebenso unter 10h“ und mein Blick auf die Uhr fiel, die 9h55min anzeigte- ich glaube, das war der emotionalste Moment meines bisherigen Sportlerlebens. Tränen der Freude, des Glücks, der Erleichterung und unfassbarer Stolz: Fast 2 Jahre Vorbereitung und dann so ein Ergebnis, ich kann es nicht glauben.

Und jetzt? Irgendwie kann ich es immer noch nicht glauben. Ich war also jetzt tatsächlich in Biel und habe die 100km unfassbar in unter 10 Stunden geschafft. Was für ein krasser Scheiss ist das eigentlich?! 😀

(Sandra Stark)